Der fatale Griff zur Flasche



Wer krank ist, geht in der Regel zum Arzt und lässt sich behandeln. Ganz gleich, woran der Patient leidet. Doch da gibt es eine Krankheit, von der 95 Prozent aller Erkrankten behaupten, sie hätten sie nicht: der Alkoholismus.

Die Trinkertypen
VON HEINRICH JACOB
s wird gelogen und betrogen, bagatellisiert und verleugnet, behandeln lässt man allenfalls organische Symptome, nicht die Ursachen. Die Krankheit wurde in Deutschland erst vor 35 Jahren im Sinne der Krankenversicherung als solche anerkannt.
Am 18. Juni 1968 fällte das Bundessozialgericht sein Urteil. Seither verursachen nach Schätzungen der Bundesregierung etwa 4,5 Millionen Menschen mit dieser Krankheit jährlich einen volkswirtschaftlichen Schaden von 35 Milliarden Euro.
Alkohol - die Droge des Teufels holt sich ihre Opfer.
Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums werden jährlich in Deutschland
42 000 Todesfälle registriert, die direkt auf Alkohol zurückzuführen sind. Darunter auch 1000 Autofahrer, die Jahr für Jahr alkoholisiert am Steuer die letzte Fahrt angetreten haben - jeder siebte Verkehrstote starb wegen Alkoholkonsums.
Mehr als 250 000 Menschen müssen jährlich wegen übermäßigen Trinkens medizinisch betreut werden. 200 000 alkoholkranke Frauen im gebärfähigen Alter bringen rund 3000 Kinder mit schwersten Alkoholbedingten Schädigungen zur Welt eine größere Katastrophe als der Contergan-Skandal in den 60erJahren.
Ein teures Leiden
Die Freie Universität Berlin hat in einer Studie zusammengetragen, welche wirtschaftlichen Folgen der Alkoholismus in Deutschland hat. Stationäre und ambulante Behandlungen, Rehabilitation und andere Betreuungskosten demnach jährlich 20 Milliarden Euro. Durch Alkohol verschuldete Arbeitsunfälle, Sachschäden, Krankentransporte und Unterbringungen werden mit zwölf Milliarden Euro angegeben. Hinzu kommen nur schwer zu schätzende Kosten wie etwa die Folgen von Gewaltverbrechen unter Alkoholeinfluss. Gegen diese Summen stehen Steuereinnahmen des Staates durch die Alkohol Steuer von geschätzten 3,5 Milliarden Euro - wahrlich ein schlechtes Geschäft.
Die Zukunftsaussichten sind noch trüber. Prof. Karl Mann von der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin Mannheim und Dr. Frank Schwärzler von der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen fassen die Gefahren in einem kurzen Satz zusammen:
?Im Jahr 2020 werden Erkrankungen, die durch Nikotin und Alkoholmissbrauch, Umweltbelastung und Luftverschmutzung entstehen, die weltweit wichtigsten
Todesursachen sein Alkoholismus wird heute immer noch in weiten Teilen der Bevölkerung lediglich als Willens- und Charakterschwäche abgetan.
So einfach ist es jedoch nicht.
Auch bei Alkoholkranken sind genetische Ursachen mittlerweile nachgewiesen.
Sie sind, gleichbedeutend mit psychologischen und soziologischen Ursachen, verantwortlich für die Krankheit.
Eben weil Alkoholismus im sozialen Umfeld so ausgeprägt verneint wird, stellen sich die wenigsten Erkrankten medizinischer Hilfe. Fachberatungsstellen erreichen gerade einmal
fünf Prozent ihrer Zielgruppe, Fachkliniken laut Prof. Mann gerade mal ein Prozent. Das Desinteresse verhindert eine Aufklärung und damit auch eine reale Selbsteinschätzung
vieler Betroffener. Auch die Gefahren des Alkoholkonsums werden meistens unterschätzt. Sie reichen von Organschäden bis zur Demenz. Kaum ein Trinker weiß, dass ein einziger Vollrausch Abermillionen Hirnzellen unwiederbringlich zerstört.
Immer wieder wurde versucht, Alkoholkranke zu klassifizieren, um eine Zielgerichtete Behandlung vornehmen zu können.
Die bekannteste Klassifizierung nach Trinkertypen stammt von Prof. Jellinek, die dieser 1960 für die WHO (Weltgesundheitsorganisation) vorgenommen hat. Die Ergebnisse resultieren aus der Befragung von 2000 anonymen Alkoholikern:
? Beim Alpha-Trinker ist das Trinkverhalten vorwiegend psychologisch.
Er trinkt in Stress-, Konflikt- und Problemsituationen. Mengenkontrollverluste gibt es bei ihm kaum. Es besteht jedoch eine psychische Abhängigkeit.
? Der Beta-Trinker ist Gelegenheitstrinker.
Er trinkt vor allem bei gesellschaftlichen Anlässen; allerdings besteht bei ihm die Tendenz, solche Gelegenheiten gezielt auszunutzen.
? Beim Gamma-Trinker steht die Abhängigkeit im Vordergrund. Er neigt außerdem zu Exzessen.
? Der Delta-Trinker ist vorwiegend in Regionen anzutreffen, in denen aus sozioökonomischen Gründen fortwährend Alkohol zur Verfügung steht {zum Beispiel Weinanbaugebiete).
Permanenter Alkoholgenuss gehört zu diesem Typ. Die Trinker halten regelmäßig einen Blutalkoholspiegel, der andere Menschen in einen Vollrausch fallen ließe. Sie fallen trotzdem nie als echt betrunken auf. Ein Absinken des Blutalkoholspiegels führt zu
Entzugserscheinungen.
? Der Epsilon-Trinker ist durch Perioden sehr starken Trinkens, in denen tagelang durch getrunken wird, und dazwischen oft längeren Nichttrinkens gekennzeichnet
(Volksmund: Quartalsäufer).


Bin ich Alkoholiker?
Seit 1994 existiert eine von der WHO herausgegebene Publikation, die einen einfachen Selbsttest ermöglicht.
Diese Grenzziehung von gelegentlichem Alkoholgenuss bis zur Diagnose Alkoholismus wird heute vielfach angewendet.
? Primär Abstinente beziehungsweise fast Abstinente:
Personen, die noch nie getrunken haben oder maximal einmal im Vierteljahr Alkohol zu sich nehmen.
? Sekundär Abstinente: Personen, die früher getrunken haben, jetzt aber abstinent leben oder in einem Vierteljahr maximal einmal Alkohol zu sich nehmen.
? Personen mit geringem Alkoholkonsum: Frauen oder Männer, die durchschnittlich nicht mehr als 16 (Frauen) oder 24 Gramm (Männer) Alkohol pro Tag trinken.
Zur Orientierung:
l Glas Pils (0,3 1) - 9 Gramm Alkohol,
l Glas Sekt (0,21) =19 Gramm Alkohol,
l Glas Wein (0.2 1) - 19 Gramm Alkohol.
? Personen mit mittlerem Alkoholkonsum:
Frauen oder Männer, die durchschnittlich mehr als 16 oder 24 Gramm täglich zu sich nehmen.
? Personen mit problematischem Alkoholkonsum:
Frauen oder Männer, die durchschnittlich mehr als 40 oder 60 Gramm Alkohol täglich trinken.
? Personen mit extremem Alkoholkonsum:
Frauen oder Männer, die täglich mehr als 60 oder 90 Gramm Alkohol trinken.
Kliniken bezeichnen Patienten als Alkoholiker, die in ihrem Trinkverhalten zwischen mittlerem und extremem Alkoholkonsum anzusiedeln sind.
Der einfachste Selbsttest ist wohl, nur vier Wochen keinen Alkohol zu trinken und aufmerksam zu registrieren, wie der Körper reagiert.
Kommt es zu Zittern, Unwohlsein, Schweißausbrüchen und weiteren nicht anders zu erklärenden Erscheinungen, gehört man wahrscheinlich zu den 95 Prozent Alkoholikern, die eigentlich gar keine Alkoholiker sind ...

Lübecker Nachrichten 15.04.2005
 

 

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